Ihr kennt das sicherlich: Je älter ihr werdet und je mehr Erfahrungen ihr sexuell macht, umso wahrscheinlich stoßt ihr auf Glaubenssätze, die sich wie ein Brett vor dem Kopf anfühlen. Im schlimmsten Fall kollidieren eure intrinsischen Wünsche mit den gesellschaftlichen Lektionen, wie Sex zu sein hat. Einer meiner persönlichen Glaubenssätze, über die ich heute schreiben möchte, betrifft meine Rolle als Frau. Oder anders ausgedrückt: Wie sieht eine Sexualität aus, die nicht passiv und abwartend ist?

Es spielt an dieser Stelle keine Rolle, woher solche Glaubenssätze kommen und wer »Schuld« daran hat, dass ich sie verinnerlicht habe. Das basiert auf so vielen unterschiedlichen Einflüssen und Faktoren und ich würde mich nicht wohl dabei fühlen, einer monokausalen Argumentation zu folgen. Ich bevorzuge es, den Blick in die Zukunft zu richten.

Beginnen wir also bei mir und meiner Geschichte. Etwas (sprich: Sex) zu wollen und diesen Wunsch auszudrücken, ist immer mit dem Risiko verbunden, es nicht zu bekommen. Diese simple Tatsache ist zunächst einmal völlig neutral. In Beziehungen im Allgemeinen spielt die Tatsache mit hinein, dass wir anerkannt werden wollen und nicht-kongruente Wünsche diese Anerkennung manchmal zunichte machen. Gleichzeitig ist die Fähigkeit, eine gewissen Differenz stehen zu lassen, nicht allen von uns gleichermaßen gegeben. Sie ist vielmehr etwas, das man sich erarbeiten und jedes Mal aufs Neue »aushalten« muss. (Ich verweise an dieser Stelle an David Schnarch und die Differenzierung des Selbst.) In meinem Fall im Speziellen führten nicht-kongruente Wünsche in einer vergangenen Beziehung zu belastenden Situationen. Mein Wunsch nach häufigem (besser: häufigerem) Sex bereitete den Weg für unsere Trennung. Ich habe noch nicht alles aufgedröselt, was damals passiert ist – vor allem, welche Rolle meine eigenen Handlungen und Glaubenssätze dabei spielten.

Es war mir einerseits peinlich, Sex einzufordern. Für mich war das ein Zeichen meiner eigenen Bedürftigkeit; ein Spiegel dessen, wie ich meine Rolle als Frau sah: passiv und abwartend. Das kollidierte andererseits mit meiner lebendigen Libido. Ich befand mich einer Lose-Lose-Situation: Forderte ich Sex ein, konnte ich ihn nicht genießen, weil ich Schuldgefühle hatte, gegen den »Geschlechtervertrag« verstoßen zu haben. Zudem fragte ich mich permanent, ob er wirklich Lust auf mich hatte oder ob ich ihn nur überredet hatte. Wartete ich, bis er aktiv wurde, hatten wir so selten Sex, dass ich es libidomäßig kaum verkraftete.

Einer meiner zentralen Glaubenssätze drehte sich um die Rolle, die Männer und Frauen bei der sexuellen Anbahnung bevorzugt einnehmen. Es kam einer Epiphanie gleich, als ich begriff:

Warum sollte es einem Mann nicht genauso sehr gefallen, aktiv verführt und genommen zu werden wie einer Frau?

Denn ich wusste: Mir gefällt das. Sofern die Beziehungsebene stimmt und ich mit dem Kopf nicht völlig woanders bin, genieße ich es, wenn ich um den Finger gewickelt werde. Gerne auch mit körperlichem Nachdruck. Warum sollte das bei Männern anders sein? Und selbst wenn es bei den meisten Männern anders ist und sie doch lieber aktiv sind – vielleicht sind das dann nicht diejenigen, die mit mir langfristig kompatibel sind?

Dass es sich oft so anfühlte, als hätte ich meinen Ex-Partner zum Sex »überredet«, hatte mit einem weiteren Glaubenssatz zu tun: Sex darf erst stattfinden, wenn beide Partner in einer bestimmten Situation genau gleich viel Lust darauf haben und wenn bei beiden der Zeiger auf 100 Prozent geht. Das ist eine Illusion. In allen anderen Beziehungsbereichen ist es völlig klar, dass es – je nach Situation – einen Partner gibt, der (eher) initiiert, und einen, der (eher) reagiert; einen, der einen Vorschlag macht, und einen, der den Vorschlag annimmt oder ablehnt.

Weil diese Illusion in Bezug auf Sex jedoch so tief in mir verankert ist, stimmt es mich heute manchmal noch nachdenklich, wenn ich den Sex initiiere und ein Mann darauf »nur« reagiert. (Dabei lief mein Sexleben viele Jahre exakt so ab und ich fand es in der überwiegenden Zahl der Fälle sehr geil.) Gleichzeitig entsteht für mich ein wahnsinnig großer Lustgewinn dadurch, in dieser aktiven, verführenden Rolle zu sein. Das Tempo vorzugeben, hat den Vorteil, dass ich bestimmen kann, wann ich bereit für Penetration bin oder ob ich nicht lieber noch ein wenig geleckt werde. Ich kann Stellung und Intensität so gestalten, wie es sich für mich gut anfühlt. Natürlich verliere ich meinen Partner dabei nicht aus den Augen. Das führt manchmal zu der Situation, dass ich mich mittendrin frage, ob ich nicht gerade etwas zu »rücksichtslos« und gierig bin. (Dazu habe ich kürzlich etwas getwittert.) Bisher war das glücklicherweise nicht der Fall.

Ihr seht deutlich: Die weiter oben angesprochene Ambivalenz ist nicht ganz aufgelöst. Ich nehme sie jedoch endlich bewusst wahr und sobald etwas das diffuse Unterbewusstsein verlässt, ergeben sich bessere Wege, damit umzugehen. Je öfter ich einen Perspektivwechsel vollziehe und mir dasselbe aktive Verhalten wie die Männer, die ich während meines Sexlebens kennengelernt habe, erlaube, umso eher komme ich bei einem Verhalten an, das nicht auf fragwürdigen Glaubenssätzen basiert. Ich lande bei meinem authentischen Selbst.

Und zu guter Letzt: Ich fühle mich gut dabei, etwas aktiv zu gestalten. Es gibt keinen Grund, warum das bei meinem Sexleben anders sein sollte.

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Diskussion

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    Kiki — 11. Januar 2021 um 16:05

    Das ist wirklich ein spannender Gedankengang. Ich bin beim Sex überhaupt nicht gern die treibende Kraft, sondern mag es total, wenn mich jemand umgarnt. Typisch weiblich vermutlich? Wenn er keine Anstalten macht, dann mach ich äußerst selten den ersten Schritt, weil ich total Angst davor hab abzublitzen oder auch das Gefühl zu haben ihn zu etwas überredet zu haben, falls er mitmacht. Wenn ich es so durchdenke, wird mir klar wie oft ich mir selbst im Weg stehe. Vielleicht muss ich mich da mehr aus meiner Komfortzone wagen. Die meisten meiner Sexpartner wären froh wenn sie klarer wüssten, was sie machen sollen. (hab ich den Eindruck) Aber irgendwie fühl ich mich in der passiveren Rolle wohler.

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    Mr_Twoflower — 12. Januar 2021 um 08:18

    Du hast es auf den Punkt gebracht: mir gefällt es ungemein, wenn die Waage der Verführung ausgeglichen ist.

    Was bedeutet es denn, wenn man den Partner verführt? Es ist für mich ein Zeichen der Wertschätzung: “Ja, Du, genau Du, bist es, der mich anmacht! Du bist es, den ich in diesem Augenblick (und auch ausserhalb) begehre…”

    Und für den Gegenüber ist es doch einfach berauschend, begehrt zu werden.

    Du schriebst zu Beginn, dass Du Dir am Anfang dachtest, “will er das überhaupt?” Genau dieselben Gedanken hatte ich ebenfalls, wenn die Waage unausgeglichen war.

    Sex als Wertschätzung.

    In meiner ersten gebuchten Tantramassage kniete sich eine mir unbekannte Frau nackt vor mich hin, im Hintergrund lief sinnliche Musik, sie srreichelte und liebkoste meine Füsse, meine Waden und kam mit einer Anbetung in Stimmung. Die Wertschätzung der Seele und des Körpers vom Gegenüber, wie sie mir im Vorgespräch erklärte. Dies war auch eine Art der Verführung.

    Toller Beitrag. Ich danke Dir.

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