Kaum ein anderes Wort wird im Zusammenhang mit (funktionierender) Polyamorie häufiger genannt als »Ehrlichkeit«. Gleichzeitig sorgt genau dieser Vorsatz – neben Eifersucht – für den Großteil der Auseinandersetzungen. Denn Ehrlichkeit lässt sich sehr unterschiedlich definieren und manche Paare möchten auf dem Papier ehrlich sein – das Klima innerhalb der Beziehung ist jedoch ausgesprochen ehrlichkeitsfeindlich. Mit diesen Dynamiken und Fragen beschäftige ich mich in diesem Beitrag.

Wir werfen einen Blick in das Wohnzimmer des imaginären Paares Anna und Gerome.

Anna fragt nach Gerome nach Details zu seinem Date mit einer anderen Frau:

»Was habt ihr gemacht?«

Da das nicht die erste Frage dieser Art ist, ist Gerome bereits etwas angespannt.

»Wir waren spazieren und danach essen.«

»Wo genau?«

»Bei dem kleinen Franzosen im Süden.«

»Aha. Über was habt ihr geredet?«

Gerome ist zunehmend angespannter.

»Über alles Mögliche …«

»Ich glaube, du verschweigst mir was! Wir hatten uns absolute Ehrlichkeit geschworen und du siehst das scheinbar anders als ich.«

Ich vermute, dass viele polyamore Paare ähnliche Auseinandersetzungen kennen. Vielleicht mit anderen Themen, anderen Rollen und etwas weniger überspitzt, als ich es hier dargestellt habe.

Woran liegt das?

Meine These: Hundertprozentige Ehrlichkeit ist ein Phantasieprodukt. Das Einfordern von hundertprozentiger Ehrlichkeit führt zu Konflikten und (paradox!) zu einem ehrlichkeitsfeindlichen Klima innerhalb der Beziehung.

Wir werfen nochmal einen Blick auf Anna und Gerome – ein paar Wochen zuvor. Die Vereinbarung lautete, dass sich beide sofort darüber informieren, sobald ein neuer Kontakt mit potenziellen Partner*innen entsteht. Gerome hatte vormittags angefangen, mit Katrin zu texten. Abends wollte er Anna Bescheid geben, allerdings tat er das nicht, weil Anna nach mehreren Überstunden völlig erledigt war. Am nächsten Morgen liegt Geromes Handy auf dem Tisch und Anna sieht zufällig eine intime Nachricht von Katrin aufploppen. Der Streit ist vorprogrammiert.

Es gibt Paare, die eine rigide »Berichtskultur« etabliert haben und jede Aktivität mit anderen akribisch dokumentiert haben möchten.

Warum?

Ich vermute dahinter eine große Angst vor dem Kontrollverlust, der mit jeder offenen Konstellation einher geht. Das wiederum öffnet die Tür für ein ehrlichkeitsfeindliches Klima. Kontrolle raubt die Luft zum Atmen – das wissen wir alle. Wer sich in die Ecke gedrängt fühlt, geht jeder Gelegenheit aus dem Weg, die ihn noch weiter in die Ecke treibt. Es entstehen destruktive Geheimnisse und kleine Notlügen, die sich summieren. Gleichzeitig sollte sich der kontrollierende Part fragen, ob er das (legitime!) Bedürfnis nach Ehrlichkeit nicht als Mittel benutzt, dem anderen die Verantwortung für die eigene Angst vor dem Kontrollverlust in die Schuhe zu schieben.

Aber mein*e Partner*in ist nicht dafür verantwortlich, dass ich einen guten Umgang mit meinen Verlustängsten finde. Diese Bürde kann keine Beziehung langfristig tragen. Vertrauen, Offenheit, Kommunikation usw. sind natürlich ungemein wichtig. Nur: Die letzte Meile – die kurze Wegstrecke, die meistens besonders wehtut und wo sich unsere Ur-Ängste versammeln – die muss jede*r selbst gehen.

Verlustängste – darum drehen sich (nicht nur) offene Beziehungen. Die Möglichkeit, verlassen zu werden und alleine zu sein, fühlt sich nicht gut an. Der erste Reflex ist oft, Mechanismen zu entwickeln, um mit dieser Angst gut leben zu können. Wer mich und meinen Zugang zu Polyamorie kennt, der weiß, dass ich an dieser Stelle eher davon abrate, einen mehrseitigen Regelkatalog aufzustellen. (Mehr dazu in einem anderen Beitrag.) Ich plädiere für einen flexibleren Zugang bzw. für ein positives Mantra, an dem man sich als Paar orientiert.

In dem wundervollen Buch Stepping Off The Relationship Escalator habe ich einen schönen Satz gefunden:

»Be excellent to each other.«

Was macht so ein Satz mit einem selbst und der Beziehung? Er verändert den Fokus bzw. legt den Fokus auf Vertrauen und Akzeptanz. In einem ehrlichkeitsfeindlichen Klima lauten die Prämissen jedes Gesprächs: Was verschweigst du mir? Werde ich jemals alles erfahren? Warum hast du Geheimnisse?

Von diesen destruktiven Fragen aus in ein konstruktives Gespräch zu kommen, ist annähernd unmöglich. Wer einen Gerichtssaal betritt, in dem lauter Menschen sitzen, die einen bereits vorverurteilt haben, bekommt keinen fairen Prozess. Starte ich jedoch bei einem positiven Mantra, entscheide ich mich gleichzeitig dafür, meinem Gegenüber positive Motive zu unterstellen. Selbst wenn es in Sachen Ehrlichkeit Unstimmigkeiten gibt (Spoiler: die wird es geben), rutsche ich nicht in eine Haltung der Vorwürfe. Ich sage mir viel eher: Okay, das lief nun nicht so, wie ich mir das vorgestellt habe und bin unter Umständen verletzt, aber mein*e Partner*in hat das nicht getan, weil er*sie böse zu mir sein möchte.

Viel Theorie bis hierher. Zum Ausklang habe ich ein paar Tipps gesammelt, wie sich (ganz praktisch) ein ehrlichkeitsfreundliches Klima in einer Beziehung herstellen lässt:

  • Vereinbarung eines festen Termins, an dem über Aktivitäten außerhalb der eigenen Beziehung gesprochen wird. Damit schafft man einen klaren Rahmen und die Möglichkeit, sich mental auf einen solchen Austausch vorzubereiten.
  • Akzeptieren, dass es keine hundertprozentige Ehrlichkeit und immer ein gewisses Maß an Geheimnissen geben wird.
  • Fragen, bevor man ein längeres Gespräch führt. Beispielsweise: »Hey, ich würde gerne mit dir über etwas sprechen, das ich mit Person XY erlebt habe. Hast du Lust darauf? Bist du gerade in der Stimmung? Ist es dir wichtig, das jetzt zu erfahren?«
  • Manchen Paaren fällt es leichter, intime Erlebnisse mit anderen in einen erotischen Kontext einzubetten.
Was Poly für mich bedeutet
In der Schwitzhütte

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